Strategieblog

Ein Déjà-vu oder was die Regierung Merkel gerade falsch macht

Das Déjà-vu 2015

Dieser Tage fühlt man sich erneut an die Jahre 2015 und 2016 erinnert. Eine menschliche Tragödie in Europa rüttelt die Menschen auf dem ganzen Kontinent auf. Angela Merkel erkennt diese Tragödie, versteht die Betroffenheit “ihrer“ Bürger und mobilisiert diese Emotionen, um die Krise zu lösen – nicht in Trippelschritten, sondern mit einem tiefgreifenden Akt konsequenter Politik. Sie unterwirft das politische Berlin, die Administration, die Regierung und das Parlament ihrer Logik und ihrer Krisenlösung. Und sie tut das Richtige. 2015 nach menschlichem Ermessen und ethischen Standards, 2020 nach wissenschaftlichem Kenntnisstand. Damit verhindert sie eine noch viel umfassendere Krise, Hunderttausende Flüchtlingstragödien in 2015 und weitere zigtausend Corona-Tote in Deutschland.

Doch leider geht das Déjà-vu weiter: Es wiederholen sich auch die Unzulänglichkeiten der Bundeskanzlerin und der im wachsenden politischen Streit liegenden Führungspersonen um sie herum. Sie versteht es nicht, die Menschen im Land auf Dauer mitzunehmen. Sie verliert den einmal hergestellten Kontakt, sie agiert als gute Verwalterin, aber als schlechte Kommunikatorin. Was 2016 in eine Krise der Union mündete und zum Aufstieg der AfD führte, ruft 2020 eine bislang unbekannte Bewegung (Widerstand 2020) hervor, die in kürzester Zeit über 100.000 Unterstützer gefunden hat und deren nachhaltige Überlebensfähigkeit momentan niemand einschätzen kann Insgesamt ist die Polarisierung, die Verbreitung von Verschwörungstheorien, aber auch die Reichweite rechtspopulistischer Messages wieder auf einem sehr hohen Niveau angekommen. Die Zustimmungswerte für die Regierung beginnen zu stagnieren bzw. leicht abzunehmen.

Die kommunikative Realität „da draußen“

Auch die kommunikative Lage ähnelt der in 2015. Während es in der breiten Öffentlichkeit hohe Zustimmungswerte für die Politik der Kanzlerin gibt, sind es die Echoräume der Sozialen Medien, in denen die Politik der Regierung in Frage gestellt wird und ‚alternative Fakten‘ verbreitet werden. Die vorhandene Unsicherheit über die hochdynamische Entwicklung und der Frust über die eigene Lebenslage der Menschen werden gezielt ausgenutzt. Damit erzielen die Angstmacher Involvements und Resonanzen, über die die klassischen Medien froh wären. Diese wiederum steigerten sich zu Beginn der Krise in eine quasi vorbehaltlose Zustimmung der politischen Maßnahmen, in der kritische Stimmen rar waren. Später dann schwenkten viele Medien unter dem Eindruck der Stimmungsmache in den Sozialen Medien, einzelner Politiker und auch des eigenen ökonomischen Drucks um.

2015 hatte die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles frühzeitig gewarnt, man brauche einen realistischen Kurs. Damals war die Kernaussage der Kanzlerin „Wir schaffen das“. Nahles fragte: „Ja aber wie schaffen wir es, ohne die Menschen in Deutschland zu überfordern?“ Auch 2020 stellt sich angesichts einer tiefgreifenden Gesundheits- und Wirtschaftskrise, dramatischer Zahlen am Arbeitsmarkt und drohender weiterer Insolvenzen die Frage, wie die Menschen in diesem Land für die politischen Entscheidungen mitgenommen werden können. Die Antwort darauf muss weit über die aktuelle Situation und die Mai-Wochen hinaus reichen. Die Antwort wird vor dem Hintergrund zunehmender Kampagnen von Gegner dieses gesundheitspolitischen Kurses (wie Widerstand 2020 oder dem Verband der Familienunternehmer) immer drängender. Denn die Gegner des Regierungskurses haben ein einfaches Spiel, ihre Antworten sind einfach und verzichten auf ethische Abwägungen. Damit sind ihre Botschaften leichter zu transportieren, als die eines komplexen Regierungshandelns.

Was wir jetzt brauchen

Ministerpräsidenten und Bundesregierung kommunizieren gegenwärtig vollständig im Modus der starken Exekutive. Sie entscheiden nach rational vernünftigen Erwägungen und verkünden ihre Entscheidungen. Leider werden diese Entscheidungen von ihren Zuhörern als gar nicht so vernünftig wahrgenommen, denn die erforderlichen Abwägungen und die notwendige Dämpfung des öffentlichen Lebens führen immer zu Entscheidungen, die willkürlich erscheinen: Wieso sind 750 qm Ladenfläche noch in Ordnung, aber 850 qm nicht mehr? Wieso bleiben überfüllte Wochenmärkte offen, während Einkaufszentren nicht öffnen dürfen? Wieso wird Friseuren die Wiedereröffnung erlaubt und dem Beauty-Salon nicht? Wieso darf der Spielplatz öffnen, nicht aber das Fitnessstudio? Wieso wird Urlaub an der Ostseeküste genauso untersagt wie die Kreuzfahrt auf beengtem Raum? Es gibt in diesem Dickicht der Entscheidungen keine richtigen, keine gerechten, keine in jeder Dimension sinnvollen Entscheidungen. Es ist ein Abwägen und am Ende ein Durchregieren. Das aber erscheint demjenigen, der diese Abwägungsprozesse nicht nachvollziehen kann und muss, sich nur mit den Entscheidungen auseinandersetzt immer willkürlich. Der Umstand, dass die Ministerpräsidenten dabei ganz unterschiedliche Voraussetzungen im Infektionsgeschehen und in ihrer Wirtschaft und sozialen Infrastruktur vorfinden und daher auch zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen, wird dabei nicht als rational, sondern als willkürlich oder persönlich motiviert wahrgenommen. Dieses Gefühl der Willkür ist aber der Nährboden für Zweifel, die gezielt aus politisch interessierten Kreisen der Rechtspopulisten oder der Familienunternehmer gestreut werden.

Die Kommunikation in dieser Krise muss daher einer komplett anderen Logik folgen, einer Logik, die auch mehr und mehr die politischen Entscheidungen selbst dominieren muss. Denn sowohl für die Kommunikation, als auch den Erfolg der Lockerung des Lockdowns ist eine Frage entscheidend: „Wie schaffen wir es, die Menschen mitzunehmen und für ein sozial und gesundheitlich verantwortliches Verhalten zu sensibilisieren?“ Es geht dabei um eine langfristig angelegte Akzeptanzkommunikation, die jenseits des Krisenmodus eine notwendige Strategie verfolgt.

Da kann der Blick zurück in die Geschichte helfen: Die wohl gefährlichste und tödlichste moderne Infektionskrankheit AIDS kam in den 80er Jahren zuerst in den Großstädten der westlichen Welt auf. Sie grassierte als „Schwulenseuche“ und schon bald wurde klar, dass sie beim Sex übertragen wurde. Lange bevor man AIDS (und HIV) detailliert verstanden hatte und lange bevor wirksame Medikamente zur Verfügung standen, musste diese Infektion gestoppt werden. Auch hier gab es in einigen Ländern zunächst den Versuch, mit restriktiven Mitteln dagegen vorzugehen. Das Ergebnis war unmissverständlich: Zwar konnten einige Infektions-Hotspots geschlossen und damit Infektionsgeschehen verlangsamt werden. Ideen HIV-Positive zu isolieren oder zu kennzeichnen, waren aber nirgends durchsetzbar, so scheiterte der restriktive Weg schnell. Es war die Politik der Aufklärung, die auf Verhaltensänderungen zielte, die einen tiefgreifenden Erfolg erzielen konnte und die dynamische Entwicklung dieser Krankheit eindämmen half, bis wirksame Medikamente auf den Markt kamen. Eine solche Verhaltensänderung ist eine Kombination aus grundsätzlichem Selbstverständnis („verhalte dich so, als sei Dein Gegenüber HIV-positiv“), mit einfachen Verhaltensweisen („Safer Sex“ oder im Umgang mit offenen Wunden) und technisch einfachen Hilfsmitteln (Kondome).

Angesichts der Tatsache, dass Covid-19 nicht schnell verschwinden wird, weitere Pandemie-Wellen jederzeit möglich sind und erst ein Impfstoff und eine massenweise Impfbereitschaft diesen Virus eindämmen werden, muss man davon ausgehen, dass wir in Deutschland sicherlich bis 2022 mit Covid-19 zu tun haben werden. Hinzu kommt die Gefahr, dass sich Pandemien in einer globalisierten Welt regelmäßig wiederholen werden. Es bleiben also die Fragen: Welche Verhaltensweisen von Safer Work, Safer Travel und Safer Events, können wir uns aneignen, um dauerhaft mit diesem oder jedem vergleichbaren Virus zu leben? Welche Hygienemaßnahmen brauchen wir, wie muss unser auf Krisen vorbereitetes Gesundheitssystem aussehen?

Eine Regierung, die auf Verhaltensänderungen zielt und konsequent in diesem Sinne kommuniziert, appelliert an den Einzelnen und fordert jeden auf, Teil des Kampfes gegen diese Pandemie zu werden. Sie schafft es, dass Menschen sich zunehmend freiwillig dem gewünschten Verhalten anschließen, kann auch Zuwiderhandlungen klarer sanktionieren und zugleich Akzeptanz erhalten. Damit spielt sie den Ball an Nörgler und Kritiker aus der Wirtschaft zurück. Wer nicht sicherstellen kann, dass seine Verkaufsfläche immer ausreichend Abstand zwischen den Menschen bietet, wer kein Management der Warteschlangen betreibt, wer sich weigert, wartende Kunden auch wegzuschicken, wer keine Hygiene im Betrieb sicherstellt und den nötigen Abstand zwischen den Mitarbeitern sicherstellen kann, der wird sanktioniert und dessen Betrieb wird für längere Zeit geschlossen. Wer hingegen ein verantwortliches Verhalten möglich macht, es bewusst fördert, der muss sich nicht fragen lassen, ob er 300 oder 900 qm Fläche bewirtschaftet. Wer eine Messegesellschaft es garantiert, dass nie zu viele Besucher auf dem Gelände, die Abstände eingehalten und Hygienemaßnahmen und Belüftung permanent betrieben werden, kann auch ohne Probleme eine Fachmesse durchführen.

Vor allem aber bedeutet eine am Verhalten ausgerichtete Kommunikation für die Regierung auch eine langfristig durchhaltbare Kommunikationslinie. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich einbauen. Die Menschen können neue Verhaltensweisen im Alltag trainieren. Die vielbeschworene zweite Corona-Welle, aber auch „bloße“ Grippewellen können jeweils durch eine Intensivierung der Verhaltensregeln begleitet werden – so könnte Mundnasenschutz in Grippezeiten „normal“ werden. Dazu gehört auch der Hinweis, sich bei Krankheitsgefühlen nicht in die Öffentlichkeit zu begeben, sondern lieber zuhause zu bleiben und das dringendste aus dem Homeoffice zu erledigen.

Noch heute erinnern sich viele an die Bundesgesundheitsministerin Rita Süßmuth, weil sie damals gegen erhebliche Widerstände die verhaltensorientierte Kommunikation innerhalb der Bundesregierung durchgesetzt hat.

Es ist Zeit für mehr Süßmuth in dieser Regierung.

GroKo – quo vadis

Am 7. Februar erzielten die drei Parteien CDU, SPD und CSU einen Durchbruch in ihren Verhandlungen und konnten einen neuen Vertrag für eine Wiederauflage der Großen Koalition schließen. Diesem Vertrag müssen jetzt noch ein CDU Parteitag und die Mitglieder der SPD zustimmen. Während ersteres trotz interner Kritik am Ergebnis als Formsache gelten dürfte, stellt zweiteres eine ernstzunehmende Hürde dar. Allerdings dürften die Ereignisse von Mittwoch die Chancen einer Zustimmung deutlich gesteigert haben. Nicht nur sind einige wichtiger Erfolge aus Sicht der SPD zu konstatieren, auch der personelle Rochade die den bisherigen Parteivorsitzenden Schulz aus dem Fokus nimmt, dürften die Zustimmung steigern. Andrea Nahles gilt als Führungsfigur, der die meisten in der Partei zutrauen, den Erneuerungsprozess der SPD parallel zur Regierungsarbeit voranzutreiben. Die NoGroKo Vertreter gerieten erkennbar in die Defensive.

Vielfach wurde von einer Niederlage der CDU gesprochen und geschrieben. Das ist zweifelsohne richtig. Dabei ist die Frage des Finanzministeriums nur ein Symbol. Viel entscheidender ist der Umstand, dass CSU und SPD ein doppelter Coup gelang: Erstens konnten beide ihre Führungsfragen und die Frage nach den Machtzentren bis 2021 klären. Die CSU wird in Bayern von MP Söder in das nächste Jahrzehnt geführt, während der Parteivorsitzende und Superminister Seehofer noch für weitere vier Jahre die bundespolitische Größe der CSU darstellt. In der SPD kann Andrea Nahles eine Rolle erlangen (Partei- und Fraktionsvorsitzende), mit der schon viele Vorsitzende in der Vergangenheit liebäugelten, die aber in der SPD eine historische Seltenheit darstellt. Zugleich wird Olaf Scholz als Finanzminister und Vizekanzler die SPD Stimme im Kabinett sein. Die beiden vertrauen einander und können die K-Frage 2021 im Einvernehmen klären. Ganz anders die CDU, über der nun drei Jahre lang die Nachfolgefrage als Damoklesschwert hängt, denn weder wird ein Kronprinz oder eine Kronprinzessin installiert, noch sind die Machtverhältnisse zwischen liberal-konservativen Kräften und moderatem Merkelflügel geklärt. Das wird die gefühlte Dominanz der Bundeskanzlerin in der Großen Koalition I und II beenden und eine ganz neue Form der Koalition einleiten.

Da kommt erschwerend ein zweiter Punkt hinzu. CSU und SPD gelingt es, sehr klare Profile in dieser Koalition für sich zu erlangen. Damit können beide Parteien sich profilieren, Unterschiede herausstellen, ohne ständig zänkisch agieren zu müssen. Die CSU wird künftig über die meisten der Milliarden Infrastrukturinvestitionen wachen: Straße, Schiene, Breitband, Wohnen, Bauen – allein die Energienetze liegen in der Verantwortung des Wirtschaftsministeriums. Überdies kann eine strikte Flüchtlingspolitik die rechte Flanke der Union bedienen. Die SPD dagegen wird das Thema Europa besetzen und die Antwort auf Macron zur Zukunft der Europäischen Union wesentlich prägen können. Noch wichtiger aber: Mit Ausnahme des Themas Gesundheit liegen in den SPD Ressorts alle Alltagsthemen. Die SPD kann sich als die Partei der Mittelschichten profilieren: Arbeit, Soziales, Rente, Familie, Frauen, Jugend und Verbraucherschutz. Dagegen wirken die Ressorts der CDU wie eine bunter Flickenteppich.

Wer also glaubt, dass diese Koaliton eine bloße Fortsetzung der bisherigen Großen Koalition sein wird, der kann sich eventuell dramatisch täuschen. Zwei weitere Gründe sprechen dagegen. Diese Koalition macht das Füllhorn in Richung Investitionen in Soziale und reale Infrastrukturen auf. Der Investitionsstau soll aufgelöst werden und damit die öffentliche Daseinsvorsorge erheblich gestärkt werden. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass neben der Flüchtlingsfrage Themen der Teilhabe, der fehlenden öffentlichen Infrastruktur und des Stadt/Land-Gefälles wesentliche Treiber für die Wahl der AfD waren. Gelingt es diese Investitionen umzusetzen, dann kann dem Eindruck des Stillstands in Deutschland entgegengewirkt werden. Übrigens wird daher auch extra eine Enquetekommission zum Thema Bürgerbeteiligung und damit zur Steigerung von Akzeptanz bei solchen Vorhaben eingesetzt werden. Der andere Grund liegt in den viel belächelten 105 Kommissionen und Expertenrunden, die in diesem Koalitionsvertrag vereinbart wurden. Man darf dabei nicht übersehen, dass diese Kommissionen teilweise sehr klare Arbeitsaufträge haben und nicht so unbestimmt Fragestellungen hin und her diskutieren sollen, wie es den Eindruck hat. Auch das kann dazu führen, dass diese Koalition versuchen wird, die wichtigsten Stakeholder der eigenen Politik mitzunehmen, auch um auf diese Weise die Realisierung dieser Politik zu beschleunigen – und ja, in Teilen ist dies auch eine Vertagung von Konflikten, die nicht gelöst werden konnten (z.B. bei der Angleichung der Arzthonorare).

Gelingt diese Form der Politik, so bedeutet das für Wirtschaftsakteure, dass sie noch viel mehr darauf hinwirken müssen, sich als konstruktive Experten für die Politik anzubieten und weniger auf konfrontatives Gegensteuern zu beschränken. Das ist bei solchen Multistakeholder-Ansätzen ein hochkomplexer Vorgang, erfordert Thought Leadership, Aufbau von fachlichen und gesellschaftlichen Kompetenzen und einen transparenten sowie ehrlichen Umgang mit den eigenen Interessenlagen.

Neu Denken verlangt Mut, die alten Bahnen zu verlassen

Dieser Tage entbrannte eine öffentliche Diskussion über die künftige Wahlkampfstrategie der SPD. Auslöser waren sechs Thesen zum Wahlkampf, die als sechs „Wege“ aus der Krise bezeichnet wurden und in der Überschrift „Wahlkampf Neu Denken“ verlangten. Was dann folgte waren fünf Binsenweisheiten und nur eine wirklich spitze, neue These: Die SPD müsse lernen zu demobilisieren. Diese These provoziert zurecht den Meinungsstreit. Die Mobilisierungsprobleme der SPD haben sich ja nicht nur in Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen gezeigt – daraus aber eine Demobilisierung der Wählerinnen und Wähler als strategische Perspektive abzuleiten hat wirklich Chuzpe. Mit anderen Worten: Wenn die SPD bitte schön schon komplett demobilisiert ist, dann soll sie den Wahlkampf auch gleich so gestalten, dass möglichst niemand mehr zur Urne geht.

Wie das in Zeiten emotionaler Polarisierung und populistischer Zuspitzungen gelingen soll, bleibt offen. Mehr noch: Der Wahlkampf der SPD in Baden-Württemberg, Thüringen oder Sachsen-Anhalt war nicht mobilisierend oder polarisierend. Er hatte nichts emotionales und konnte offenkundig die eigenen Wähler nicht binden. Also beste Voraussetzungen für einen demobilisierenden Wahlkampf. Der Umstand, dass die Wahlbeteiligung am 13. März dennoch rasant in die Höhe schnellte, demonstriert doch, dass solch eine Wahlkampfkampagne so wenig Relevanz entfaltet, dass sie keinerlei Einfluss auf den Mobilisierungsgrad der Wähler hat.

Es lohnt sich also ein deutlich analytischerer Blick auf die aktuellen Entwicklungen. Das ist nicht nur ein Thema der SPD, denn alle Parteien müssen mit der aktuell extrem hohen Volatilität im Wählermarkt umgehen:

  1. Die SPD muss erkennen, dass es kein verbrieftes Anrecht darauf gibt, als Volkspartei verstanden zu werden. Die SPD wird immer häufiger von den Wählern als Funktionalpartei eingeordnet. Was bedeutet das? Die Zahl der Wähler, die quasi automatisch der SPD ihre Stimmen geben, schwindet drastisch. Dem kann die SPD immer dann entgegentreten, wenn sie die Frage nach der eigenen funktionalen Rolle beantworten kann. Dort wo das gelang, wurde sie auch deutlich stärker gewählt. Dort wo sie nicht einmal als Mehrheitsbeschaffer für andere unverzichtbar war, bricht die Wählerunterstützung weg.
  2. Die SPD hat offenbar nur noch ein starkes Pfand, um Wahlen am Ende zu gewinnen: Glaubwürdiges, empathisches Personal. Dort wo dieses Personal an der Spitze vorhanden ist und bestenfalls bereits regiert, kann die SPD gute Ergebnisse erzielen. Dieses gilt nicht nur im Vergleich der Landtagswahlen im März, sondern auch die Kommunalwahlen in Hessen legen diese Betrachtung nahe. Das ist gut dort, wo die SPD solche Personen noch hat. Das stellt sie aber dort vor eine Herkulesaufgabe, wo das Vertrauen in die Partei beim Wähler nicht durch einen Landesvater oder eine Oberbürgermeisterin hergestellt werden kann.
  3. Die SPD hat das heterogenste Wählerklientel aller Parteien. Sie muss damit strategisch umgehen lernen. Das Setzen auf große Kampagnen und mediale Hypes funktioniert nicht mehr. Je heterogener Wählerklientel sind, desto kleinteiliger und direkter muss die Ansprache erfolgen. Die Wiederentdeckung des Haustürwahlkampfs 2012/13 hat es vorgemacht. Wo immer der Haustürwahlkampf ins Rollen kam, konnte die SPD deutliche Zugewinne verzeichnen. Und aktuell: Wie soll denn eine aussagekräftige, emotional ansprechende Botschaft beim Thema Flüchtlinge für alle Wähler aussehen? Die einen sind ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe aktiv und wollen etwas für diese Menschen tun. Gleichzeitig gibt es die anderen, die diese Form der Zuwanderung ängstigt und verunsichert. Darum muss die SPD lernen nicht in tollen kreativen Kampagnen zu denken, sondern ein differenziertes Ansprachemanagement aufzubauen.
  4. Im Übrigen: Eine Volkspartei besitzt im besten Sinne in der eigenen Mitgliedschaft viele wichtige Kommunikatoren für ein solches Ansprachemanagement. Es muss aber gelingen, diese zu mobilisieren. Die SPD hat immer nur dann gute Ergebnisse vorweisen können, wenn diese Binnenmobilisierung gelang. Wer sich die Mobilisierungsunterschiede zwischen Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg anschaut, kann auch hierin einen Grund für die enorm unterschiedliche Entwicklung in der Wählergewinnung erkennen. Ein Demobilisierungswahlkampf wird also die SPD zuerst treffen. Die SPD hat bundesweit zwischen 1998 und 2009 umgerechnet täglich 2.500 Wähler verloren. Wenigstens einen Teil davon zurückzugewinnen, wird ein mehrjährige Kärrnerarbeit werden.
  5. In diesem Zuge muss ein kritischer Blick auf den Umgang mit den AfD Wählern geworfen werden. Hier sind grundlegende Fehler gemacht worden. Sowohl anbiedernde Äußerungen, die nahelegen die Kritik der AfD/Pegida sei berechtigt, als auch die Beschimpfung („Pack“) und Ausgrenzung haben nur einen Effekt: Es schweißt Wähler und Funktionäre der AfD zusammen. Mit der Niederlage der wählerfernen Besserwisser Lucke und Henkel in der AfD war absehbar, dass die AfD anders als die Piratenpartei kein kurzfristiges, sondern eher ein mittelfristiges Phänomen sein wird. Ein differenzierter Blick in die AfD zeigt, dass es rechtskonservative Demokraten wie Gauland und Meuthen ebenso wie rechtsextreme, völkische Funktionäre wie Höcke und Poggenburg gibt. Richtig wäre es, genau diesen Unterschied auch deutlich zu machen und erstere immer wieder zur Distanzierung von zweiteren aufzufordern, ansonsten aber mit ersteren in den streitbaren, kritischen demokratischen Diskurs zu treten. Nur dann wird man diese Wähler zurückgewinnen.
  6. Was aber muss man diesen Wählern anbieten, um sie zurückgewinnen zu können? Eine Frage, die für alle Parteien der Mitte gleichermaßen gilt. Die AfD ist Ausdruck einer kompletten Verunsicherung und Überforderung in vielen Milieus. Nach zahlreichen Reformen, Globalisierung, Standortwettbewerb, Gleichstellungsdiskussionen, Bildungsdebatten, Digitalisierungsschüben, immer schnelleren Transformationsprozessen in Unternehmen usw. hat sich das Leben der Menschen in den letzten 10 bis 15 Jahren massiv verändert. Alle Gewissheiten gingen verloren. Neue Gewissheiten fehlen. Die Veränderungen erfolgen, aber ohne die Menschen mitzunehmen, ihnen zu erklären, was warum mit welchem Ziel passiert. Und das in einer Sprache, die so einfach ist, wie die von Donald Trump – der ja neuesten Analysen zufolge seine Erfolge auch darauf aufbauen kann, dass gerade seine einfachen Bilder und Hierarchien und ein beschränkter, einfacher Wortschatz für politikferne Mittelschichten Wirkung erzielt, weil diese Wähler erstmals Politik wieder verstehen.
    Die Grundbotschaft muss dabei lauten: Politik kann Sicherheit im Wandel organisieren. Sie muss es sogar tun. Dabei geht es nicht um Sozialpolitik, sondern durchaus auch um Gewissheiten beim Meistern eines immer komplexeren Alltags bspw. durch umfassende Betreuungsangebote. Und es geht um eine Verbindung von öffentlicher, privater und sozialer Sicherheit – nicht erst seit der Silvesternacht 2015/16.
  7. Was bleibt als Fazit? Ganz einfach: Von Platzeck lernen! 2004 hat er in Brandenburg einen mutigen Wahlkampf geführt. Auf dem Höhepunkt der Hartz IV Konflikte, hat er sich nicht versteckt, sondern ist dorthin gegangen, wo die Menschen waren, wo sich ihre Wut, ihre Ängste, ihre Enttäuschung artikulierte und hat ihnen zugehört, ihnen die Politik erklärt und dann auch für den eigenen Kurs geworben. Er hat sich nicht von der Agenda 2010 distanziert, sondern den Kurs des Bundeskanzlers verteidigt. Aber er hat den ganzen Frust der Menschen ausgehalten, Haltung gezeigt und geredet.
  8. Haltung ist wichtiger als Effekthascherei. Es geht nicht darum, dass Kandidaten sich inszenieren und durch alberne Motive Wort halten („Ude hält Wort„), sondern eine Haltung an den Tag legen, die dieses schlicht und einfach tut. Politik handelt vom Leben der Menschen – und das ist in diesen Tagen etwas ernstes.

Aber noch etwas zeigen diese letzten Wahlen: Frank Stauss (Geschäftsführer der für die SPD Rheinland-Pfalz arbeitenden Agentur Butter) hat seit anderthalb Jahren für die Kampagne der Rheinland-Pfalz SPD gekämpft und geworben. Er hat richtigerweise erkannt, wie wichtig Haltung und glaubwürdige Spitzenkandidatin sind. Er hat diesen Kurs gehalten und offenbar dabei auch Malu Dreyers Vertrauen gewinnen können. Der Wind kam von vorne, als einige in der Bundes-SPD seine Thesen nicht hören wollten und auf die drohende Niederlage verwiesen. In Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen dagegen ist das Experiment einer inhouse Beratung der SPD gescheitert.

Kurzum: Unabhängigkeit in der Beratung ist ein elementarer Mehrwert für jeden Kunden, auch in der Politik.

 

Wenn Zivilgesellschaft zum Geschäftsmodell wird – oder: watch abgeordnetenwatch!

Kritik an Politikern, politischen Entscheidungen und am Umgang mit Interessen in der Politik ist nichts neues. Politik in der Demokratie ist das Abwägen und Bewerten von Interessen, politische Entscheidungen sind immer auch Entscheidungen über Interessen. Da kann es nicht wundern, dass Interessenvertretung ein konstitutiver Bestandteil von Demokratie und Parlamentarismus ist. Übrigens zeigt die Schweiz, dass Interessenvertretung auch in plebiszitären, direkten Demokratien kein Deut weniger relevant sind.
Neu ist aber, dass sich seit knapp 12 Jahren die Auseinandersetzung mit dieser Interessenvertretung selbst zum Thema geworden ist. Den Anfang bildete dabei sicherlich der Skandal um Moritz Huntzinger. Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung e.V. (degepol) mit der Forderung nach Regulierung von Interessenvertretung beispielsweise durch ein Lobbyregister und eine intensive Beschäftigung von Transparency International mit dem Thema „Lobbyismus“ waren die ersten Reaktionen darauf. Später gründen sich dann mit Lobbycontrol e.V. und Parlamentwatch e.V. (abgeordnetenwatch) noch zwei spezialisierte Vereine, die sich dieser Thematik widmen. Doch während Lobbycontrol und Transparency International Nichtregierungsorganisationen sind, die Mitglieder haben, die sich mit den Themen auseinandersetzen und am Ende inhaltliche Positionen erarbeiten und verabschieden, offenbart der Blick auf abgeordnetenwatch etwas völlig anderes.
Abgeordnetenwatch erweckt den Eindruck eine Plattform zu sein, die sich neutral mit der Arbeit der Abgeordneten auseinandersetzt und dem Austausch zwischen Abgeordneten und Bürgern dient. Zielsetzung ist mehr Transparenz für die Arbeit der Abgeordneten. Da wundert es natürlich nicht, dass abgeordnetenwatch jüngst auf den Zug aufsprang und sich nun auch mit Lobbyismus auseinandersetzen will. Ein Blick hinter die Kulissen zeigt aber, dass abgeordnetenwatch keine neutrale Plattform und NGO ist, sondern ein Geschäftsmodell und keine demokratische Organisation ist.
Die Gründer haben dem Verein Parlamentwatch e.V. – in dem man übrigens nicht Mitglied werden kann, sondern nur als Förderer Geld geben – eine GmbH gleichen Namens beigesellt. Hier sind die beiden Vorsitzenden dann geschäftsführende Gesellschafter. Neben einem Venture Capitalist, der die Aktivitäten des Konglomerats vorfinanziert. Alles klar und offen kommuniziert, so dass in der Fülle der Information der Kern der Botschaft verloren geht: Parlamentwatch ist ein Geschäftsmodell, das letztlich auch den wirtschaftlichen Interessen der Gründer des Start Ups dient.

Besonders deutlich wird dies, wenn man sieht, dass ein Geschäftsführer von abgeordnetenwatch mehrere Hüte aufhat. So managt Geschäftsführer Hackmack gleichzeitig die Businessplattform change.org, die ihr Geld mit der Entwicklung und Organisation von Kampagnen, insbesondere auch Lobbykampagnen verdient. Eine der bekanntesten Kampagnen von change.org war sicherlich die Lobbykampagne für höhere Vergütungssätze der Hebammen in Deutschland. So ist es dann nur logisch, dass abgeordnetenwatch seine Wertschöpfungskette erweitert. Beispielsweise mit dem neuesten Produkt Petition plus. Wer eine Petition ins Leben ruft und über change.orgso bewirbt, dass 100.000 Unterstützer zusammenkommen, erhält die Chance einer Petition plus. Dazu sind 2.000 Euro für eine repräsentative Befragung zum Petitionsthema erforderlich. Befürwortet in dieser Befragung die Mehrheit der Befragten die Petition, befragt abgeordnetenwatch alle Abgeordneten und veröffentlicht diese Ergebnisse einzeln auf abgeordnetenwatch. abgeordnetenwatch hält übrigens die Hand auch an anderer Stelle auf: Die Profile der Abgeordneten in allen Parlamenten können gegen Entgelt ausführlicher und im Sinne der Abgeordneten gestaltet werden.
Die Aktivitäten von Abgeordnetenwatch sind damit also nicht nur von den kommunizierten Interessen getrieben, sondern durchaus eine Unternehmung mit eigenen unternehmerischen Interessen. Mit BonVenture ist ein VC-Fonds wohl der wichtigste Geldgeber des Unternehmens. Auch wenn BonVenture einen besonderen Fokus auf nachhaltige Geschäftsmodelle setzt und Gewinne nach Rückführung der Mittel dann in gemeinnützige Projekte gegen sollen, so bleibt es Venture Capital, das zurückverdient werden will. Und hier scheint Demokratie durchaus als Geschäftsmodell zu taugen: auf BonVentures Website findet sich als abgeschlossenes Projekt Lobbycontrol.

Die Mär von den herumlungernden Lobbyisten – oder acht Lektionen über Lobby und Politik

Dieser Tage konnte man ein Meisterwerk der politischer Ersatzhandlungen sehen. Und zugleich vieles über politische Entscheidungsprozeduren und Interessenvertretung lernen.

Lektion 1:

Man kann in der Politik Probleme kreieren, die keine sind. Mit dem Vorstoß zur Offenlegung der Institutionen der Inhaber von Hausausweisen haben LobbyControl und der Tagesspiegel den Eindruck erweckt, dass diese Frage von irgendeiner Relevanz für den Kampf um Transparenz im Lobbyismus wäre. Das mag für wenige Exemplare an Lobbyisten gelten, die noch ganz im Sinne des Begriffes der Lobby im Bundestag herumlungern und Abgeordnete und andere mit ihren Belangen belästigen. Erfolgreiche Interessenvertreter sind diese Exemplare offenkundig nicht. Wie irrelevant die Liste der Hausausweisträger ist, lies sich ja auch bestens nach ihrer Veröffentlichung erkennen. Überwiegend Parteivertreter und Mitarbeiter parteinaher Stiftungen waren dort zu finden. Ganz im Sinne der beste Lobbyist ist immer noch die eigene Partei?

Lektion 2:

Bei diesem Spiel kann man sich auf die Fehler der politischen Verantwortungsträger verlassen. Der Ältestenrat, die Bundestagspräsident, die Fraktionsvorstände von SPD und CDU/CSU agierten ohne jede Empathie dafür, was sie auslösen würden und verweigerten das Auskunftsinteresse des Tagesspiegels. Damit wurde das „Problem“ zum Politikum. Nach gerichtlichen Niederlagen gaben nach und nach erst die SPD, später die Union ihren Widerstand auf. Die Listen wurden einsehbar. Gähnende Langeweile.

Lektion 3:

Angst und Nervosität sind schlechte Ratgeber in der Politik. Kaum zum Politikum geworden, versuchen die Verantwortungsträger schnell eine Lösung zu finden. Man hat dazu gelernt, denn schwelt der Konflikt lange weiter, wird das Politikum von den Medien zum Skandal erklärt und Politik mal wieder vorgeführt. Also versuchen die Handelnden schnell und energisch Entscheidungen zu treffen. Je schneller und je energischer, um so weniger Luft, Zeit und Interesse ist bei Entscheidungsträgern vorhanden, nach sachgerechten Lösungen zu finden. Ziel ist es, eine „Brandwand“ hochzuziehen. Das Thema „tot zu machen“ und eine Lösung des Problems zu suggerieren.

Also, erklärt man die existierende und bis dato untaugliche Verbändeliste zum Lobbyregister, macht den Eintrag dort zum einzigen Kriterium der Vergabe eines Ausweises. Dann reduziert man die Anzahl der Ausweise je Verband von 5 auf 2, umso sicher nachweisen zu können, dass man die Zahl der Hausausweise drastisch eingeschränkt habe. Damit erklärt man das Problem für gelöst.

Lektion 4:

Hernach muss man allerdings noch schnell Ausnahmeregelungen für die Mitarbeiter der Parteien und der politischen Stiftungen schaffen, damit diese ungehindert und in Hundertschaft wieder ins Haus kommen.

Lektion 5:

Die Betroffenen reagieren ambivalent und uneinig. Damit fällt es den politischen Entscheidern besonders einfach, diese Regelungen rasch und mit wenig öffentlicher Kritik durchzusetzen. (Da nehme ich mal den Beitrag vom degepol Vorsitzenden Dominik Meier im Tagesspiegel ausdrücklich aus.)

Warum das so ist? Einerseits trifft diese Regelungen niemanden ins Mark. Klar, ist es menschlich unangenehm, sich künftig jedes Mal von einem Abgeordnetenmitarbeiter abholen lassen zu müssen. Aber deswegen wird niemand auf einen Termin verzichten. Andererseits zeigen schon die Antworten auf die Anfragen der Oppositionsparteien zur Offenlegung von Regierungskontakten im Vorfeld einzelner Gesetzgebungsverfahren, dass für die meisten Interessenvertreter die Gespräche mit Regierungsvertretern und Mitarbeitern in der Administration ohnehin viel wichtiger sind, als die Kontakte zu den Abgeordneten. Wer erst bei Vorliegen eines Gesetzentwurfs zu „lobbyieren“ anfängt, hat den Kampf ja zumeist schon verloren.

Lektion 6:

Eine solche Regelung hilft den Entscheidungsträgern über die Wahl. Eine Vielzahl an Fragen bleibt ungeklärt: Wann ist ein Verband ein Verband nach Verbändeliste? Lassen sich nun Interessen-Vereine gründen und in die Verbändeliste eintragen? Wie hält es der Bundestag mit dem Gleichheitsgrundsatz, der ausdrücklich auch für den Zugang zum Bundestag gilt und nun einseitig beschränkt wurde? usw.

Natürlich wird es hierzu juristische Auseinandersetzungen geben. Eigentlich bezweifeln fast alle Juristen, dass der Bundestag diese Auseinandersetzungen gewinnen kann. Also wird er in der kommenden Legislaturperiode sich erneut damit befassen müssen.

Lektion 7:

Aber auch politisch haben LobbyControl, der Tagesspiegel und Bundestagspräsident Lammert keine der Fragen gelöst, sondern nur ein Scheingefecht entschieden.

Wann endlich kommt ein Transparenzregister für alle Interessenvertreter, um nachvollziehen zu können, wer welche Interessen strukturell vertritt?

Wann endlich wird ein InteressenBeauftragter geschaffen, der vergleichbar einem Chief Compliance Office wirklich nachfragen kann, wer wann mit wem was verhandelt hat und so Interessenkollisionen transparent macht?

Wann endlich kommt eine Regelung, die das größte Transparenzproblem löst: Bundestagsabgeordnete, die im Nebenjob als Rechtsanwälte selbst Lobbyistentätigkeiten nachgehen, und ehemalige Politiker, denen noch alle Zugänge offenstehen, ohne Transparenzpflichten zu unterliegen. N.B. ehemalige Abgeordnete haben lebenslangen Zugang zu Fraktionssitzungen und zur Parlamentarischen Gesellschaft.

Wann endlich führen wir eine seriöse Diskussion über einen legislative Footprint, der ohne bürokratisches Monster zu sein, dazu beiträgt, ministerielle Konsultationen nachvollziehbar zu machen?

Wann endlich werden Instrumente einer Good Governance eingeführt, die es Interessenvertretern erlauben, ihre Positionen unabhängig davon, ob sie eingeladen werden zu Anhörungen, ihre Stellungnahmen einzureichen und öffentlich zu machen, um für ihre Interessen auch zu werben?

Lektion 8:

Mit dem Bild des in der Lobby herumlungernden und heimlich Termine machenden Lobbyisten im Kopf wurde uns dieser Tage leider vor Augen geführt, wie Politik und Interessenvertretung nicht funktionieren sollten. Umso größer sollte unsere Sorge sein: Wenn es nicht gelingt, adäquate und vor allem gemeinsam getragene Antworten für die zuvor genannten Fragen zu finden, dann wird Compliance in der Interessenvertretung vermutlich erst nach dem nächsten großen Skandal Einzug erhalten. Dann jedoch werden wir kaum eine sachgerechte Lösung erhalten.

Gastbeitrag von Indre Zetzsche: Infrastrukturprojekte brauchen Beteiligung. Beteiligung braucht Führung.

Öffentliche Großprojekte sind im Schnitt 73 Prozent teurer als geplant. Zu diesem Ergebnis kommt die jüngste Studie der Hertie School of Governance, die am 19. Mai 2015 veröffentlicht wird. Das Team unter Leitung von Prof. Dr. Genia Kostka hat 170 seit 1960 realisierte Großprojekte untersucht. Als zentrale Kostentreiber sieht die Forschergruppe vor allem Defizite bei der Entscheidung, Planung und Steuerung: „Verwaltung und politisch Verantwortliche seien oftmals zu optimistisch und überschätzten ihre Fähigkeiten.“ Ob und wie die Öffentlichkeit als Einflussgröße im Rahmen der Untersuchung berücksichtigt wurde – darüber geben die Vorabveröffentlichungen keine Auskunft. Jedoch liegt auf der Hand, dass die Öffentlichkeit eine zentrale Rolle bei Infrastrukturprojekten spielt.

Bürger/innen können Projekte aufhalten und die Kosten mit ihrem Protest in die Höhe treiben. „Stuttgart 21“ steht hierfür wie kein zweites Beispiel. Bürger/innen können aber auch dazu beitragen, dass Projekte besser und kostengünstiger werden. So etwa beim baden-württembergischen Schindhaubasistunnel.

Wie lässt es sich erklären, dass die Bürger/innen das eine Mal als Prozessoptimierer/innen, das andere Mal als „Wutbürger/innen“ auftreten? Die Antwort ist – wie immer – komplex. Und doch oder gerade deshalb lassen sich Faktoren für „gelungene“ Bürgerbeteiligung ausmachen.

Da wäre zunächst einmal die Grundsatzfrage: Wie viel Beteiligung ist eigentlich gewollt? Oder anders gefragt: Was steht eigentlich zur Disposition? Sollen die Bürger/innen als „Expert/innen in eigener Sache“ konsultiert werden (Beispiel: Netzausbau)? Sollen sie das „Wie“ eines Vorhabens mitgestalten (Beispiel: Schindhaubasistunnel) oder über das „Ob“ mitentscheiden können (Beispiel: Tempelhofer Feld). Nur wenn der Beteiligungsrahmen klar definiert und – womit wir beim zweiten Punkte wären – auch verbindlich ist, kann Öffentlichkeitsbeteiligung zum förderlichen Faktor werden.

Verbindlichkeit heißt, dass die Ergebnisse eines Beteiligungsprozesses die Wirkung entfalten, die man im Vorfeld vereinbart hat. Dass ein rein informatives Beteiligungsverfahren innovative Kraft entfaltet, würde niemand erwarten. Wenn aber die Bürger/innen entscheiden sollen und das Bürgervotum dann übergangen wird, ist Enttäuschung noch die mildeste aller denkbaren Reaktionen. Kurzum: Wer Mitbestimmung verspricht, sollte sie auch einlösen. Andernfalls verkehrt sich Beteiligung in ihr Gegenteil: Was Engagement und Vertrauen schaffen sollte, mündet in Verdrossenheit und Misstrauen.

Neben der Grundsatzfrage sind es aber auch methodische Fragen, an denen sich gelungene Beteiligung entscheidet. Ganz gleich in welcher Phase eines Infrastrukturprojekts die Öffentlichkeit beteiligt wird (Genehmigung, Planung oder Umsetzung), müssen Ziele, Instrumente und Techniken aufeinander abgestimmt sein. Ein auf Akzeptanz zielendes Verfahren tut gut daran, auf Innovationstechniken zu verzichten und stattdessen auf Information und sachlichen Austausch zu setzen. Auf Beratung zielende Beteiligung braucht wissens- und kreativitätsfördernde Methoden. Vor allem aber braucht Beteiligung Verantwortung. Was heißt das?

Wer einen Beteiligungsprozess initiiert, muss wissen, wofür sie/er das tut und den Prozess entsprechend steuern. Allzu gerne ziehen sich die Initiator/innen aus der Verantwortung und lassen „überparteiliche“ Moderator/innen vermitteln, die durchaus gute, aber am Ende nicht gewünschte und nicht umsetzbare Ergebnisse produzieren.

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JUK_IZE_Indre_Zesche_2Indre Zetzsche ist Business Direktorin bei Johanssen + Kretschmer Strategische Kommunikation GmbH für das Beratungsfeld Dialogkommunikation und frühe Öffentlichkeitsbeteiligung. Sie verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in der Konzeption, Moderation und strategischen Begleitung von Dialog- und Beteiligungsprojekten.

Bittere Lektion für Labour

Labour zerschmettert zwischen zwei Volksentscheiden – SNP wird Mitglieder- und Volkspartei – konservative Tories gewinnen mehr enttäuschte Wähler der Liberalen als UKIP ihnen abnehmen kann.

Das sind die vermutlich wichtigsten Fakten der britischen Wahl. Während die Medien sich auf die ungenauen Umfragevorhersagen stürzten, hinter denen letztlich „nur“ ein Swing von 2% zulasten von Labour und zugunsten der Konservativen steht, der sich beim britischen Mehrheitswahlrecht aber eben in der Sitzzahl vervielfachen kann, soll der Fokus hier auf die strategischen Fragestellungen dahinter gelegt werden.
Labour ist der Verlierer dieser Wahl. Eine Niederlage, die weniger überraschend kommt, als viele jetzt glauben machen wollen. Letztlich hat Labour in zwei wichtigen Fragen, die‎ Teile der britischen Öffentlichkeit bewegten und bewegen, keine für die für breite Wählerschichten tauglichen, keine populären, sondern nur „vernünftige“ Antworten gefunden. Zunächst war da das Begehren nach der Unabhängigkeit Schottlands, das die SNP im letzten Jahr zwar verloren hatte, zugleich aber für sie den Boden bereitete, als Partei im Vereinigten Königreich die Rolle als einziger Interessenvertreter Schottlands einzunehmen. Als Mitgliederpartei des Nordens (100.000 Mitglieder konnten gewonnen werden) und als führende Kraft (50 Prozent der Stimmen bei dieser Wahl). Im Gegenzug zerrann Labours machtvolle Rolle im Norden, verlor die Partei hier über ein Drittel ihrer Stimmen. ‎Genauso wenig vermochte es Labour auch in der zweiten, alle Briten bewegenden, Debatte eine eigene klare Rolle zu vermitteln. Nämlich zur Frage Brexit bzw. EU-Mitgliedschaft. Statt auf populäre und auch vielleicht populistische Positionen (durchaus pro-europäisch) zu setzen, argumentierte man vielfach allein vernunftbetont. Cameron hingegen schaffte es, seine Europa-Kritiker nicht vollständig, aber doch hinreichend genug, durch das Angebot eines Volksentscheides einzubinden. So verlor Labour am Ende in alle politische Richtungen und gewann nicht genug enttäuschte liberale Wähler hinzu. Labour blieb inszeniert, abstrakt, unnahbar. Beim Wahlvolk hingegen waren andere: SNP, UKIP und am Ende sogar Cameron vorn.
Der Aufstieg der SNP war also erwartbar. Mitgliederstark und mit einem volksnahen Habitus sowie einer äußerst beliebten schottischen Ministerpräsidentin ‎konnte sich die SNP als linke Volkspartei ähnlich der CSU in Bayern etablieren. Ebenso wenig überraschen kann die vernichtende Niederlage der Liberalen, die zweidrittel ihrer Wähler verloren. Die offenkundige Machtversessenheit bei ihrem Eintritt in die Koalition mit den Konservativen, die wesentliche Wahlversprechen über Bord warf, führte ja schon für die FDP hierzulande zum Garaus. Überraschend allerdings, dass offenbar (so erste Einschätzungen) der größere Teil dieser Wähler (insbesondere in ländlicheren Gebieten und in Kleinstädten) an die Tories gingen und nicht zu Labour wechselten. Und das, obwohl Labour doch für die von den Liberalen nicht umgesetzte Politik stand.
So jedenfalls konnte UKIP nur einen einzigen Wahlkreis von den Konservativen gewinnen, während diese den Liberalen 27 Wahlkreise abnahmen.
Und was lässt sich daraus nun lernen? Mitglieder sind für Parteien in Europa immer noch eine lebenswichtige und erfolgskritische Größe. Populäre, nahbare Politik ist die einzige Chance populistische Kräfte einzubeziehen. Und wer Volksentscheide will, muss akzeptieren, dass dies die Anforderungen an politische Strategien tiefgreifend verändert.

 

Billiglohnland Agentur – oder warum die PR-Verbände gerade gegen den Mindestlohn Sturm laufen.

CCP03_0128HiDa reibt sich mancher verwundert die Augen. Ausgerechnet die PR-Branche wird zum Stichwortgeber der Gegner des Mindestlohns. In der Vergangenheit bemühte sich die Branche immer wieder um verbesserte Bedingungen für prekäre Beschäftigung. So gab es in der GPRA eine kontroverse Debatte um eine Unterstützung der Initiative „Faires Praktikum“. Ein Appell zur angemessenen Bezahlung von Praktikanten half dennoch nur bedingt. Mit rund 500 Euro Durchschnittsvergütung stand die Agenturenbranche am Ende der Praktika-Bezahlungen in Deutschland. Immer wieder wurde ins Land geführt, dass Praktika ja Ausbildungscharakter hätten. Wenn nun laut aufgeheult wird, weil Praktikanten mit fertig abgeschlossener Ausbildung (also nach dem Studium) oder bei Langzeitpraktika den Mindestlohn erhalten müssen, dann zeigt dies vor allem eines: Praktika sind heute in vielen Agenturen längst Teil des Geschäftsmodells. Es geht nicht um eine auch in 3 Monaten mögliche Ausbildung und entsprechende Einblicke in das Berufsfeld, sondern um den unternehmerischen Mehrwert am Praktikanten.
Aber diese Kritik trifft nur einen Teil der Problemlage. Wer sich die Vergütungen von Trainees oder Volontären ansieht, stellt fest, dass der Mindestlohn eine Minimumvergütung von 1.450 Euro zur Folge hat. Das tut zunächst fast keiner Agentur weh, auch wenn es 2014 sogar noch Trainee-Vergütungen von 1.200 Euro brutto gab. Fakt ist aber, dass bei vollständiger Aufzeichnung der Arbeitszeiten im Rahmen der gesetzlich erlaubten Höchstgrenze die Minimumvergütung auf 1.800 Euro ansteigen kann. Wer also unabhängig vom Stundenzettel ein adäquates Gehalt zahlen will, muss seinen Trainees schon ein Bruttogehalt von 1.800 Euro gewähren. Das allerdings liegt am oberen Rand der heute üblichen Vergütungen.
Mit einer entsprechenden Gehaltserhöhung rutschen die Volontärsgehälter in vielen Agenturen so dicht an das Juniorgehalt. Der Grundsatz des Lohnabstands zwischen den einzelnen Positionen wird aber einzuhalten sein. Die Folge: Insgesamt steigen die Gehaltskosten erheblich. Eine Agentur, die 20 Prozent ihrer Mitarbeiter als Trainees beschäftigt, ebenso viele Junioren einstellt und zudem auf Praktikanten setzt, die fertig ausgebildet sind oder eben für sechs Monate zur Verfügung stehen, wird auf erhebliche Mehrkosten kommen. Diese liegen in der Größenordnung von 8% Umsatzrendite. Wenn nun auch noch bei den Aus- und Weiterbildungskosten gespart wird und nur der branchenübliche PZOK-Standard gewährt wird und alle weiteren Ausbildungsschritte als Learning on the Job konstruiert sind, lässt sich eine zusätzliche Umsatzrendite von 4% generieren. Bei einem Geschäftsmodell, das im langfristigen Mittel bei 12% Rentabilität liegt, muss man konstatieren, dass solche Agenturen nur als Niedriglohn-Geschäftsmodell funktionieren.
Die Branchenverbände waren in den letzten Jahren extrem bemüht, sich dem Thema der Ausbildung von Nachwuchskräften zu widmen, in dem sie das Angebot außeruniversitärer Ausbildung durch eine einheitliche Prüfungsinstanz (PZOK) ergänzten. Ein Versuch, der allerdings weitgehend verpuffte, denn längst hat die akademische Ausbildung in den Bereichen Publizistik und Kommunikationswissenschaften der Zusatzausbildung den Rang abgelaufen. Aber auch sonst war die PR-Branche immer sehr auf den eigenen Ruf bedacht. Mit Aktionen wie „PR für PR“ sollte das Image des Berufsfeldes verbessert werden. Gerade viele Agenturchefs sind sehr beunruhigt, dass der Berufswunsch „Agentur“ an wichtigen Lehrstühlen von Studierenden eher als Ausnahme genannt wird. Angesichts des neuen Volontariatsstandards, den die GPRA auf den Weg gebracht und jüngst verabschiedet hat, der aber doch nur Selbstverständliches zusammenfasst, kann es nicht verwundern, dass Agenturen eben nicht mehr der Ort sind, den Studierende als Startpunkt ihrer beruflichen Laufbahn wählen. Nein, sie gucken sehr genau hin, wo ihnen wirklich hochwertige Zusatzausbildungen, externe Referenten, Kunden-Cases und Zukunftsfragen gestellt werden, und wo sie eng gecoacht und geschult werden, wo also tatsächlich in ihr Weiterkommen investiert wird.
Es besteht übrigens Hoffnung, dass der Mindestlohn dem Preiskampf der Agenturen ein Ende setzt. Agenturen, die sich mit nur 600 bis 800 Euro durchschnittlichem Tagessatz anbieten, können dies nur durch Niedriglohnmodelle für ihre Beschäftigten realisieren. Insbesondere öffentliche Auftraggeber sollten dies beachten, wenn solche Preise bei Ausschreibungen vorgelegt werden. Das gilt vor allem auch für jene Institutionen, die schon in der Vergangenheit durch Preisdumping auffielen.

NOlympJA

Da ist es also passiert. Ganz anders als von den Politikern in München, Garmisch-Partenkirchen, im Berchtesgartener Land oder in der Bayrischen Staatskanzlei gewünscht. Die Bevölkerung hat gesprochen und sie hat „No Olympia“ gesagt, und ist der staatlichen Kampagne „Olymp-JA“ nicht gefolgt.

Statt aber im Moment der Niederlage selbstkritisch auf die eigene Kampagne und die propagandaartige Kommunikation der Ja-Seite zu gucken, brachen zahlreiche Politiker in München eine Diskussion darüber vom Zaun, dass man solch überregional bedeutende Ereignisse nicht einfach vor Ort entscheiden lassen dürfe. In der Abstimmung habe sich nicht die Mehrheit der Menschen, sondern lediglich eine mobilisierte Minderheit ausgedrückt.

Dabei gebe es genügend Gründe für selbstkritische Betrachtungen. Hat doch die Kampagne der Ja-Seite die Mobilisierung der Nein-Sager erst richtig befördert. Ob es Durchsagen der Deutschen Bahn waren, in der die Bahn dazu aufforderte mit „Ja“ zu stimmen, weil nur dann bestimmte Investitionen möglich seien. (Versteckte Botschaft: Diese Geldausgaben sind nur für Olympia nötig, verbessern aber nicht die täglichen Anforderungen an Nah- und Regionalverkehre). Oder ob es die Abstimmungsunterlagen waren, in denen nur die Ja-Seite sich darstellen konnte. (Subbotschaft: Wir ignorieren alle Gegenargumente und sind davon überzeugt, dass nur Ja-Sager recht haben.)

Am Ende war es eine Werbekampagne für geschätzt über 5 Mio. Euro, an der namhafte Münchener Werbeagenturen mitgearbeitet haben, die vor allem eines deutlich machte: Olympia ist ein Riesnegeschäft, dass wir uns nicht entgegen lassen sollten. Da aber genau die Knebelverträge des IOC, die eine ganze Region haarklein auf die Vermarktungsbedingungen des IOC verpflichten, eines der Hauptargumente der Gegenseite waren, hat diese Kampagne nur unterstrichen, was die Kritiker behaupteten.

Es zeigt sich eben einmal wieder: Stakeholder zu integrieren, Kritiker früh in der Öffentlichkeitsarbeit zu beteiligen und Entscheidungsvarianten anzubieten, sind unverzichtbare Bestandteile von Akzeptanz schaffender Kommunikation. Die „No Olympia“ Kampagne hat es vorgemacht. Mit einer echten Tür-zu-Tür-Kampagne konnten die Bürger direkt angesprochen, auf die Probleme aufmerksam gemacht und für die Schwächen der Olympia-Bewerbung sensibilisiert werden.

Bleibt zu hoffen, dass Politik und Wirtschaft in Berlin diese Abstimmung und ihr Zustandekommen genau analysieren und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen. Denn Olympia kann genug begeisternde Geschichten liefern, um eine solche Abstimmung auch deutlich zu gewinnen. Eine Chance für Berlin 2024!

Ist Politik noch planbar? Was sich nach Stuttgart 21 verändert hat.

Von Klaus-Peter Johanssen und Peter Ruhenstroth-Bauer

Nachstehend ein Auszug aus einem Artikel der beiden Autoren im aktuellen Heft des CICERO.

Jahrelange Planungen, zahlreiche Studien und Expertengutachten, internationale Zustimmung, öffentliche Anhörungen und die nötigen Genehmigungen hatten, so dachten die Verantwortlichen, ihrem Vorhaben die nötige Legitimität verschafft. Einer Besetzung durch Umweltschützer, glaubten sie, durch Regierungsunterstützung, gerichtliche Räumungsbeschlüsse, Einsatz von Sicherheitspersonal, Polizei und Wasserwerfern erfolgreich entgegentreten zu können. Und doch mussten sie ihren Plan am Ende aufgeben. Was wie die Kurzfassung von Stuttgart 21 klingt, ist die Geschichte der den Konzernen Shell und Exxon gemeinsam gehörenden Öllagerplattform Brent Spar. Im Verein mit deutschen Medien und deutscher Öffentlichkeit hatte Greenpeace die Versenkung der außer Dienst gestellten Anlage im Nordatlantik verhindert. Und das, obwohl vorher wie nachher nachgewiesen war, dass diese Form der Entsorgung geringere Umweltschäden als andere Entsorgungslösungen verursacht hätte. […]

Eine so emotionalisierte Form öffentlicher Kritik hatte es bis dahin in Deutschland nicht gegeben. […]

Die Parallelen sind offenkundig [zur Situation in Stuttgart]: […] Angefangen mit „Montagsdemonstrationen“ einiger tausend Menschen über originelle, kreative Protestformen wie dem täglichen „Schwabenstreich“, „Bürgerchor“ und „Widerstandsbier“ wurde aus einer Bürgerinitiative eine Protestbewegung. Mittlerweile mobilisiert das Bahnhofsprojekt regelmäßig 50.000 bis 60.000 Demonstranten. Meist sind es „brave“ Schwaben, keine Krawallmacher, sondern Bürger wie der Schauspieler Walter Sittler. […] Die Politik, von dem Protest „kalt erwischt“, reagiert bislang im alten Schema: Beschlossen und verkündet – der Tiefbahnhof wird realisiert. Diese unverrückbar scheinende Haltung, die als ignorante Arroganz der Macht aufgefasst wird, schürt den Widerstand und verstärkt ihn zur Wut. Stark emotionalisiert wurde die Lage durch den polizeilichen Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray gegen Schulkinder, Frauen und Rentner und die Bilder darüber. […]

Hinzukam die Überzeugung der Politik, mit den vorgeschriebenen Beteiligungen der Öffentlichkeit, der Offenlegung der Planungen, der Behandlung von Einsprüchen bis zu rechtskräftigen Entscheidungen und der Befassung der Parlamente das Projekt rechtsstaatlich abgesichert zu haben. Damit sei das Projekt ausreichend legitimiert. […]

Juristisch betrachtet mögen sie recht haben. Mit diesem Hinweis werden sich die Demonstranten allerdings nicht nach Hause schicken lassen. […] Ungeachtet aller bisherigen Versäumnisse lässt sich die jüngste Entwicklung der Proteste gegen das Projekt freilich nicht mehr allein durch Fehler bei der Information der Bürger und der Kommunikation mit ihnen erklären. […]

Dass Politik so nicht mehr funktioniert, ist eine Binsenweisheit. Aber im Handeln und in der Kommunikation der Politik ist das immer noch nicht angekommen. Langzeitumfragen zeigen, dass die Menschen der politischen Kaste nicht mehr vertrauen. Die Wahlbeteiligungen, ganz gleich auf welcher Ebene, haben einen Tiefpunkt erreicht. Es wird Zeit, dass die Politik erkennt, dass die Uhren heute anders gehen.

Im Protest bei Stuttgart 21 wird daher mehr sichtbar als nur der Widerstand gegen ein Großprojekt. Der Protest ist gleichzeitig Symbol für Politik- und Politikerverdrossenheit der Bürger und mangelnde Bodenhaftung der politischen Entscheidungsträger. Wer sich nicht mehr ernst genommen fühlt, verliert zu Recht Vertrauen. Wem vermittelt wird, er habe keine Ahnung, der fragt nach der Legitimation der Politik. […] Die Attitüde „Information von oben nach unten“ funktioniert nicht mehr. Die Bürger fordern Mitspracherechte und Information auf Augenhöhe. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat in ihrer Antrittsrede als Bundesratspräsidentin formuliert, wie die Politik diese (neuen) Anforderungen erfüllen muss. Es gehe darum „von Anfang an aus Betroffenen wieder Beteiligte“ zu machen. Damit hat sie eine entscheidende Vorbedingung für erfolgreiche Politik formuliert. Information und Beteiligung, das verlangen die Bürgerinnen und Bürger immer lauter.

Dass Projektplanungen auch anders ablaufen können, zeigen zwei Hamburger Großprojekte im Jahr 2007: das eine die Idee einer Living-Bridge, einer an die Ponte Vecchio erinnernden 700 m langen Brücke über die Elbe mit Restaurants, Geschäften und 1.000 Wohnungen, das andere die Frage der baulichen Gestaltung des Domplatzes mitten in der City. In beiden Fällen hatten die Bürger die Möglichkeit, in Online-Foren die Pläne ausgiebig zu diskutieren und eigene Ideen vorzuschlagen. Die Ergebnisse dieser unter einer breiten Beteiligung von Bürgern und Experten sowie einer starken Medienresonanz abgelaufenen Prozesse sind bemerkenswert. Die zunächst als wegweisend bezeichnete Idee der Living-Bridge fand keine Mehrheit und wurde verworfen. Und der Hamburger Domplatz ist nun eine grüne Oase in der Stadtmitte mit den angedeuteten Grundmauern des Doms ganz ohne die ursprünglich vorgesehenen Stahl- und Glasbauten. Positive Beispiele sinnvoller Bürgerbeteiligung statt Bürgerproteste. […] Die Kommunizierbarkeit ist […] der Lackmus-Test in der Projektplanung.

Das bedeutet, dass die Politik zukünftig nicht mehr umhin kommt, sicher zu stellen, dass die Bürgerinnen und Bürger real an dem Projekt beteiligt werden. Das war bei Stuttgart 21 offenbar nicht der Fall. Wer genau hinsieht, stellt nämlich fest, dass die Beteiligung zwar nach allen erforderlichen Regularien, tatsächlich aber nur pro forma abgelaufen ist. Wie anders kann man es verstehen, dass bei den über 10.000 Einsprüchen nur die berücksichtigt wurden, die Änderungen an Einzelheiten des Tiefbahnhofprojektes vorsahen? Alle Einsprüche, die sich gänzlich gegen das Projekt aussprachen oder Alternativen unter Beibehaltung des Kopfbahnhofs vorgeschlagen haben, sind komplett unter den Tisch gefallen.

So werden aus Betroffenen keine Beteiligten, sondern Protestierende, im Fall Stuttgart 21, aber z.B. auch bei Gorleben, gar sog. „Wutprotestanten“. Die Folge dieses Kommunikationsversagens ist fatal: Denn nun spielt es keine Rolle mehr, ob der Protest gerechtfertigt ist oder nicht, die Protestierer mit ihrem Protest recht haben oder nicht. […] Kommunikation ist in diesem Stadium überfordert, die Basis für ein Agieren „nach Plan“ zu ermöglichen. Folgerichtig ist das Stuttgarter Schlichtungsverfahren trotz aller gut gemeinten Informationen via Internet und TV eine reine Schaufensterveranstaltung und Bühne der beteiligten Befürworter und Gegner. Dadurch jedenfalls wird der Konflikt nicht gelöst werden. Protest und Demonstrationen werden nicht nachlassen. Handlungsfreiheit wird daher nur gewonnen, wenn Lösungen gefunden werden, die am Ende dem Widerstand gegen das Projekt nachgeben. […]

Wenn „Politik planbar“ sein soll, müssen Partizipation und Information künftig Standard für solche Projekte von Politik und Wirtschaft werden. […]

In großen und zunehmend wohl auch kleinen Projekten bedeutet das für beide Seiten – Politik wie auch Bürgerinnen und Bürger – einen Gewöhnungsprozess. Der Bürgerfrust über „die da oben“ muss in echte und aktive Beteiligung umgelenkt werden. Auf der Suche nach Akzeptanz und einem Mehr an Legitimation muss die Politik dies ermöglichen und gleichzeitig das Bewusstsein schaffen, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Es mag sein, dass das eine oder andere Politik- oder Wirtschaftsprojekte dadurch nicht so umgesetzt werden kann, wie man sich das ursprünglich gedacht hatte. Aber mit der Bürgerbeteiligung hat man die Legitimation für seine Projekte und damit den notwendigen Handlungsspielraum sichergestellt. Das schafft nicht nur Akzeptanz, sondern macht Politik tatsächlich planbar.

Über die Autoren: Klaus-Peter Johanssen ist Kommunikationsberater und Mitgründer der Berliner Kommunikationsagentur Johanssen + Kretschmer. Bis 1998 war er Kommunikationschef der Shell in Deutschland. Peter Ruhenstroth-Bauer war Stellvertretender Chef des Bundespresseamtes und Staatssekretär bis 2005. Heute ist er Kommunikationsberater und Lehrbeauftragter für Regierungskommunikation (an der Universität Potsdam).

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